Wie würde Walter Benjamin die Rolle der Marken sehen?

Walter Benjamin sah im Kapitalismus eine Ersatzreligion, allerdings ohne Metaphysik und Transzendenz. Schließen Marken heute diese Lücke?
27. Januar 2025
Lesezeit: 6 Min
Inhalt
Kapitalismus als Religion
Walter Benjamin (1892–1940) war ein deutscher Philosoph, Kulturkritiker und Literaturtheoretiker, der sich intensiv mit den Auswirkungen der Moderne auf Kultur und Gesellschaft beschäftigte. Sein Werk verbindet marxistische Theorie mit messerscharfer Kulturkritik und einer tiefen Faszination für Mythen und Symbole. Besonders bekannt ist er für seine Analysen zur Ästhetik und zum Einfluss der Massenmedien.

Walter Benjamin schrieb 1921 das Fragment „Kapitalismus als Religion“, in dem er argumentierte, dass der Kapitalismus die Struktur einer Religion angenommen habe – allerdings ohne Erlösung, ohne metaphysische Dimension. Es sei ein permanentes Schuld- und Leistungssystem, in dem der Mensch gefangen sei. Benjamin beschreibt den Kapitalismus als ein religiöses Phänomen, das sich von traditionellen Glaubenssystemen unterscheidet: Während klassische Religionen Erlösung und Transzendenz versprechen, kennt der Kapitalismus nur eine unendliche Fortsetzung der Schuld. Diese Schuld wird nicht getilgt, sondern wächst weiter – eine Parallele zur modernen Konsumgesellschaft, in der das ständige Streben nach mehr nie endet. Zudem ersetzt der Kapitalismus die priesterliche Funktion durch Experten, Berater und Finanzinstitutionen, die über das System wachen, während Geld zur sakralen Macht aufsteigt.
„Der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben.“
Walter Benjamin
Doch Benjamin schrieb in einer Zeit, in der Marken noch nicht die heutige kulturelle Bedeutung hatten. Würde er heute leben, könnte er Marken als das fehlende metaphysische Element im Kapitalismus identifizieren – als das, was seinen religiösen Charakter erst vollständig macht.
Marken als metaphysische Instanz im Kapitalismus
Religionen schaffen Sinn, Identität und Gemeinschaft. Sie bieten Rituale, Symbole, Heilsversprechen und eine transzendente Erfahrung. Im Kapitalismus fehlt genau diese transzendente Dimension – er ist ein rein materielles System, das nur durch Wettbewerb, Wachstum und Leistung definiert ist. Marken schließen diese Lücke.
Sie liefern uns nicht nur Produkte, sondern auch eine tiefere Bedeutung. Apple verspricht nicht nur Technik, sondern Kreativität. Nike verkauft keine Schuhe, sondern den Glauben an das eigene Potenzial. Wer eine Harley fährt, tritt in eine Bruderschaft ein. Marken geben Identität und schaffen eine Zugehörigkeit, die weit über die Funktion eines Produkts hinausgeht. Sie werden damit zu modernen Kulten, in denen Logos als Symbole der Zugehörigkeit fungieren und Flagship-Stores zu Kathedralen der Konsumwelt werden.
Apple und Nike: Zwei Marken als Religion
In meinem Buch „3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel“ vergleiche ich Apple und Nike mit Religionen, weil sie viele ihrer Strukturen übernehmen. Apple hat einen charismatischen Propheten: Steve Jobs, dessen Lebensgeschichte Parallelen zu Religionsgründern aufweist. Sein Exil von Apple, seine Rückkehr und seine Vision – das ist eine moderne Heldenreise, fast eine religiöse Erzählung.
Nike wiederum arbeitet mit Heiligen. Sportstars wie Michael Jordan oder Serena Williams sind mehr als Werbegesichter – sie sind Vorbilder, die die Werte der Marke verkörpern. Ihr Handeln hat eine symbolische Kraft, ähnlich wie Heiligenlegenden in der Religion. Der Nike-Swoosh ist ein einfaches, universell erkennbares Symbol, genauso wie das christliche Kreuz oder der Davidstern.
Und was sind Flagship-Stores wie Apple Stores oder NikeTowns anderes als moderne Tempel? Sie sind sakrale Orte des Konsums, in denen nicht einfach nur gekauft, sondern erlebt wird. Architektur, Inszenierung, Rituale – all das erinnert an den Besuch einer Kirche oder eines Heiligtums.
Der Glaube an die Marke
Die Loyalität von Markenfans gleicht der religiöser Anhänger. Man identifiziert sich mit einer Marke, verteidigt sie, hält an ihr fest, selbst wenn rationale Argumente dagegen sprechen. Psychologische Studien zeigen, dass Menschen mit einer tiefen Markenbindung ihre Wahl als Teil ihrer Identität sehen. Marken haben Heilsversprechen: "Just do it" ist mehr als ein Werbeslogan – es ist ein Dogma für ein selbstbestimmtes Leben. Apple-Nutzer glauben, dass sie durch ihre Wahl kreativer werden. Und wer in Adidas-Sneakers läuft, fühlt sich sportlicher, auch wenn er nur ins Büro geht.
Hätte Benjamin das genauso gesehen?
Walter Benjamin betrachtete den Kapitalismus als eine Religion ohne Theologie, als ein System, das ohne einen göttlichen Bezug funktioniert und dennoch den Menschen in einer ewigen Schuldspirale gefangen hält. Hätte er heute die Macht von Marken analysiert, könnte er zu dem Schluss kommen, dass sie diese metaphysische Leerstelle füllen.
Einerseits könnte man argumentieren, dass Marken den Menschen Sinn und Gemeinschaft bieten, dass sie Rituale und Symbole schaffen und damit eine funktionale Äquivalenz zu traditionellen Religionen herstellen. Andererseits könnte Benjamin die Verehrung von Marken als eine neue Form der Ideologie kritisieren, die die Logik des Kapitalismus weiter vertieft, anstatt sie zu durchbrechen.
Benjamin war ein Denker, der sich intensiv mit Mythen und Symbolen auseinandersetzte. Würde er in der heutigen Zeit leben, so hätte er womöglich argumentiert, dass Marken nicht nur Religionen imitieren, sondern deren psychologische Mechanismen ausnutzen. Während Religionen zumindest in der Theorie eine spirituelle Dimension und die Möglichkeit von Transzendenz bieten, sind Marken immer an den Markt gebunden. Sie verkaufen nicht Erlösung, sondern Zugehörigkeit – und das zu einem Preis.
Fazit
Benjamin erkannte 1921, dass der Kapitalismus zur Religion wurde, aber ohne die metaphysischen Elemente einer klassischen Religion. Heute sehen wir, dass Marken genau diese Lücke schließen. Sie schaffen Symbole, Rituale und Identität. Sie geben dem Kapitalismus das Transzendente – und machen ihn so zur vollständigen Ersatzreligion unserer Zeit.

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Armin Bonelli
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